Tommy

 

Tommy verbrachte die meisten seiner Ferientage auf der Betonbank. Er dachte, dass sie aus Marmor sei, oder aus Granit, irgend einem edlen Stein. War sie nicht. Sie war aus Gussbeton. Er liebte sie trotzdem.

Während der Großvater die Zeitung studierte, beobachtete Tommy, den Kopf auf dessen Schoß gebettet, am liebsten die vielen Menschen, die an ihnen vorbeihetzten. Diese Leute, die blind und taub und voll von Sorgen von A nach B rannten. Sie gaben nichts auf die ruhevolle Schönheit des Platzes. Tommy schon. Er war an diesen Tagen das stille, sanfte Zentrum der brummenden Welt.

Da war das matte Pflaster. Die fensterlosen Fassaden, die ringsum aus Backsteinen oder grobem Putz aufragten. Vor ihnen führte Großvater abends sein Schattentheater für ihn auf, ehe die Nacht an den roten Ziegelmauern hochrollte. Da waren die schwarzen, schmiedeeisern geländerten Balkone, die manchmal unter dichtem Efeu begraben lagen. Oft hatten sie hier überraschende Regengüsse abgewartet, um danach wieder auf ihre Bank zurückzukehren. Und vor allem waren da die Laubbäume, die diesem Ort, etwas Vertrautes, etwas Heimeliges gaben. Zwischen ihnen spielten sie beide gerne fangen. Einmal war der Großvater gar zu hastig hinter ihm hergelaufen, hatte seine alten Beine jünger als sich selbst geglaubt, sodass er einen Baum rammen musste. Seit damals beschränkten sie ihre Aktivitäten auf das Versteckspiel.

Bald würde Großvater seine Zeitung ganz durchgeblättert haben, dann würde er wieder, genüsslich an seiner Pfeife ziehend, Geschichten erzählen. Tommy labte sich dann am süßen Tabakrauch, der sich wie ein schützender Mantel um ihn legte, während er bang den spannenden Erzählungen lauschte.

Und danach gab es Spiele. Früher waren es Fang den Finger und Wo ist die Nase gewesen. Aber diesen Sommer hatte der Großvater sein altes, abgegriffenes Schachbrett immer mit dabei. Es war wie Weihnachten. Stolz geschwellter Brust fühlte der Junge sich ein Stück erwachsener. Der Opa zeigte ihm die Züge, lehrte ihn die klassischen Eröffnungen, das Endspiel. An manchen Tagen redete er mehr über Schach, als es tatsächlich mit ihm zu üben. Wichtig war vor allem: jede Partie musste vernünftig beendet werden. Selbst wenn die Abendsonne bereits versunken, und der kühle Nachtwind seinen Einzug hielt, gab es keinen Grund für einen vorzeitigen Abbruch. Nur einmal hatte dem Großvater ein Vogel auf den beinahe kahlen Kopf geschissen.

Das war bisher auch Tommys einziger, zwar einer höheren Gewalt geschuldeter, aber in stolzer Erinnerung behaltener Sieg. Ein Sieg lehrt dich gar nichts!, hatte sein Opa damals gebrummt, indem er ungewohnt flotten Schrittes nach Hause steuernd, sich unter stummen Flüchen notdürftig und Behelfs eines Stofftaschentuchs den karg behaarten Schädel abrieb. Tommy kicherte trotzdem heimlich über den Triumph. Er liebte diese langen Sommerferien, die er unter der Obhut seines Großvaters verbringen durfte. Genoss jede Sekunde. Doch heute, heute war etwas anders: Ein fremder Mann saß auf einem weiß lackierten Sessel inmitten der sich vorbei schiebenden Menge. Er trug einen alten Frack. Reglos, steif, und stumm.

Neben ihm fand sich eine helle Tafel, bedruckt in schwarzen Lettern. Minuten lang versuchte Tommy die Botschaft zu lesen. Immer wieder behinderten Passanten seinen Blick, verdeckten diesen Frackträger, dessen Miene teilnahmslos und unbewegt blieb, die Hände ordentlich über dem Schoß verschränkt.

Tommy grübelte, während diese starren Augen unter ordentlich zur Seite gekämmten, glatten Haaren und stummen Lippen, zunehmende Unruhe in dem Jungen herauf beschwor. Er war nervös geworden, als er noch dazu einen Tisch ausmachte, auf welchem verschiedene Gegenstände angeordnet waren. Irgendwann zerrte er unruhig an dem Hosenbein seines Großvaters. Dieser reagierte nicht, und als Tommy Nachschau hielt, erkannte er, dass die Zeitung schon längst fortgelegt, die Pfeife jäh erloschen war. Auch der Großvater musterte die Person auf der anderen Seite des Platzes. Wer weiß wie lange schon.

Jetzt erst bemerkte er seines Enkels Unmut. Ohne Worte einigten sie sich darauf, der Geschichte auf den Grund zu gehen. Auch einige Passanten hielten ein, oder waren neugierig umgekehrt. Schließlich hatte sich eine kleine Menschentraube um den Fremden gescharrt, und Tommy war es möglich die Worte auf der Tafel zu entziffern: Drei Stunden gehört mein Körper ganz allein Ihnen. Machen Sie damit, was Sie wollen, ich übernehme jede Verantwortung. Marias Erbe.

Tommy spürte Knoten in der Brust.

Erst lachten die Menschen, einige schossen Fotos, andere witzelten, oder zogen kopfschüttelnd davon. Die Belustigungen versickerten aber, als der Herr im Frack auch nach langen Minuten bloß einer Plastik gleich verharrte und jedwede Reaktion verweigerte. Die Leute  begannen zu flüstern, husteten verlegen, runzelten die Stirn. Fragende Gesichter und verhaltenes Grinsen. Kaum jemand sprach mehr mit Stimme. Zweifel nagte sich ein. Viele zogen ab, manche lächelten ratlos. Um den Frackträger hatte sich eine knisternde Stille gelegt.

Der Tisch neben ihm war breit und ausladend. Er trug Stifte, Briefmarken, Kleber, Obst, Fleisch, einen Kamm, Nägel, einen Hut, großes und kleines Werkzeug, eine Säge, Farbtöpfe, einen Spiegel in goldenem Rahmen, Stoffbahnen und weiße Mullbinden. Außerdem noch eine ganze Menge anderer Gegenstände, einige davon kannte Tommy nicht. Andere wiederum machten ihm Angst. Eine Schere. Ein kleines Beil. Rasierklingen. Ketten. Ein großer Hammer. Ein langes, dünnes Messer.

Eine plötzliche Ahnung schnitt dem Jungen ins Herz. Er drängte seinen Großvater zu gehen. Dieser nickte.

Da durchbrach, wie aus dem Nichts eine junge Frau die drückende Stille. Sie zückte einen Stift und schminkte dem Frackträger volle, rote Lippen ins Gesicht, das so makellos, so frei von Falten und Barthaaren, das rötliche Zwielicht des Abends auffing.

Die Trägheit, die Regungslosigkeit, die der Mann im Frack auf die wartende Menge übertragen hatte, war mit einem Mal gesprengt. Nur er selbst blieb unbewegt, umringt von einer Meute, die jetzt kollektiv aufatmete. Sie lachten wieder und scherzten mit schiefen Mienen oder missmutigem Naserümpfen. Andere gingen fort, darunter Tommys Großvater, den Jungen mit sich ziehend. Doch sie blickten noch einmal zurück, denn soeben war ein Mädchen in Tommys  Alter, aus der Masse herausgetreten und hatte dem Mann einen Hut aufgesetzt. Ein zweites, etwas älter, nahm diesen ab, bestrich ihn mit Kleber und stülpte ihn dem Unbewegten wieder auf.

Mit finsterer Miene fuhr der Großvater herum. Er humpelte. Wenn er verärgert war, schmerzte sein kaputtes Knie.

Inzwischen hatte jemand einen Eimer dunkler Rosenblüten über den Ausharrenden geleert, sie verteilten sich über das ganze Pflaster. Eine andere malte Herzen und Fliegenpilze auf seine Wangen. Und jedes Mal waren sie nach ihrer Tat wieder in der Menge untergetaucht, nicht nur um sich wieder in die Anonymität zu retten; sondern auch um aus sicherer Entfernung eine Reaktion ihres stumm dasitzenden Sklaven zu erwarten. Aber sie blieb aus.

Der Großvater murmelte etwas Unverständliches in sich hinein, wurde von Minute zu Minute zorniger. Und als der Frackträger, inzwischen mit Briefmarken im Gesicht beklebt und mit bunt bemalten Fingern dekoriert, noch immer sich nicht regen wollte, als eine Frau in Regenmantel mit einer Schere die Kleider ihres Opfers zu zerschneiden begann, riss des Großvaters Geduld. Der Rock! Der schöne Rock! Man kann doch nicht! Er rief zum wiederholten Male, derweilen Tommy mit zweifelnder Miene zwischen diesem und dem unbegreiflichen Geschehen, an welchem sie doch nur als Zuseher teilnahmen und nicht wirklich mit machen wollten, hin und her wechselte. Das Publikum gestikulierte wild, einige fuchtelten vor Begeisterung mit den Armen, andere protestierten wie der Großvater lauthals gegen diese offenkundige Untat. Jemand zeterte, einer lachte laut auf, kurz: ein ungesunder Lärm schwoll an und türmte sich zwischen den Hauswänden des Platzes in die Höhe. Die Schere hatte indes Hose und Ärmel zerfressen und arbeitete sich zur hellen Weste vor. Vom Nabel nach oben ein Schnitt, und mit einem gekonnten Griff riss die Frau das Gewand entzwei, wodurch zwei nackte, spitze Brüste ins Tageslicht schlüpften. Die Männer und Frauen, die Mädchen und Burschen hielten inne. Schock. Stille.

Die erdrückende, stumme Überraschung jedoch wechselte binnen Sekunden in surrende Brüskierung, und begann sich rasch in rasendes, ja bald laut brüllendes Entsetzen zu verwandeln. Eine kicherte wieder, ein junger Bursche hüpfte vor Begeisterung hin und her, als sich ein älterer Mann, von heiligem Zorn über diesen unglaublichen Vorgang, diese mutwillige Täuschung, ergriffen, halb in den Reihen der Schaulustigen verborgen, aus eben diesen herausschälte. Er fasste eine offene Dose dunkelbrauner Farbe, und übergoss die Frau im nunmehr zerfetzten Frack. Genugtuung bellend, jaulte die Mehrheit in wutentladender Aggression auf. Anklagend und fassungslos zugleich brüllten sie auf ihr beschmutztes Opfer ein. Für Tommy musste sie ein Mann bleiben, durfte Geschlecht von Mutter oder Schwester nicht sein.

Doch die Frau, zeigte keine Regung, nur kurz spritzte Farbe ab, als sie ausatmete. Ein paar deuteten mit dem Finger auf sie, andere bedeckten ihr Gesicht, wieder andere schüttelten grotesk den Kopf.

Tommys Stimme hatte versagt, und wenn er noch am Ärmel seines Großvaters zupfte, dann nur zaghaft, völlig kraftlos. Offenen Mundes musste er mit ansehen, wie ihm die bizarre Kulisse dieser unwirklich gewordenen Szenerie entgegen dröhnte.

Irgendwann, man hatte der entblößten Frau mittlerweile Schuhe und Socken ausgezogen, hatte sie mit Fleisch und Obst beworfen, ihr eine Eisenkette um den Hals gelegt und mit einem Feuerzeug die übrig gebliebenen Teile der zerfetzten und verdreckten Kleider angeschmort – all das nahm die Frackträgerin hin, gleich einem von Kinderhand gequälten Insekt – irgendwann also kam dann ein Mann hinzu und griff sich eine weiße Mullbinde. Er wickelte sie erst um Kinn und Hals seines Opfers, um schließlich höher zu gehen, über Mund und Nase in Richtung Augen. Um besser arbeiten zu können, zerrte er, erst leicht, dann aber mit einem gewaltigen Ruck, den angeklebten Hut vom Haupt der Stummen, wobei büschelweise Haare aus der Kopfhaut rissen. Und schließlich, kurz bevor der Verband ganz über die Augen gerollt wurde, löste sich ihre unerträgliche Starre und die Frau, tropfend vor brauner Farbe, und ohne jede Körperregung, spähte in Tommys Richtung. Dieses feuchte, ja schon ganz schwimmende Blinzeln, dieser Moment in dem beinahe das Auge bricht, ließen Tommy frieren. Und plötzlich, aber auch nur für einen Herzschlag, bevor die Sicht ihr geraubt, war diese Person für ihn wieder Mensch geworden.

Noch ehe der Verband ganz aufgebraucht war, trat einer heran, der die flache Hand wuchtig gegen die Backe der jetzt Vermummten, der nun Anonymen, der Gesichtslosen schmetterte. Beinahe wäre sie samt dem Sessel umgestürzt, konnte sich aber rechtzeitig wieder aufrichten. Der Lärm setzte aus. Eine neue Grenze war eingerissen worden. Jedoch nur kurz hielt das grausame Publikum inne, denn sogleich fiel aller Frost ab um nur noch gewaltigere Raserei in die Welt zu schleudern. Ein hundertstimmiges Rumoren hob an.

Jetzt hatte ein Mann ein Rasiermesser ausgewählt und zog damit feine Linien über ihren Schenkel. Sie wurde begriffen, festgehalten, getätschelt, gezwickt, gezerrt und gekratzt von unzähligen, anonym wuselnden Händen aus der Menge. Sogleich drängte sich ein bärtiger Herr in grauem Dreiteiler in den Vordergrund, indem er sich mit dem goldgerahmten Spiegel vor das Opfer stellte, und das Holz auf einen Fuß der dank Mullbinden stummen und blinden und gesichtslosen Frau niederfahren ließ. Etwas knackte laut, begleitet vom klirrenden Scherbenregen der berstenden Spiegelsplitter. Das Grauen schlachtete sich in Tommys Hirn. Doch die Frau regte sich auch diesmal nicht. Nur kurz zog sie die Füße an, als wollte sie sie neu ausrichten, um sich wieder ordentlich hinsetzen zu können. Dunkles Blut floss in feinen Rinnsalen an ihren halbnackten Schenkeln hinunter, wurde von hundert fremden Fingern verschmiert, tropfte von den gequetschten Zehen, zwischen einem Meer aus Scherben, Farbe und Rosenblättern auf das Pflaster.

Tommy fühlte Tränen über seine Wangen laufen. Sein Großvater war verstummt. Der Junge wollte nach ihm sehen, aber sein Kopf schien mit Blei gefüllt, ihn zu heben dauerte eine Ewigkeit. Er glaubte sich in einem Gemälde wieder zu finden, welches in unendlicher Trägheit über den Rahmen schmolz.

Ein Bursche baute sich vor der Frau auf, wollte ausholen, während die Luft von einem furchtbaren Brüllen und unmenschlichen Jauchzen vibrierte. Er wurde fortgezerrt, geriet darüber selbst in Streit mit jenen, die ihn abzuhalten suchten. Schnell nahm ein Neuer seinen Platz ein, um eine lange, dicke Kerze am braun gefleckten, einbandagierten Schädel zu zerschmettern. Auch jetzt keinerlei Reaktion während des explodierenden Wachsregens, der der Menge entgegen und in alle Richtungen schoss. Es schien die Menschen in den Wahnsinn zu treiben. Jemand fasste eine Gabel und stieß sie wutentbrannt in den Schenkel des Opfers. Sie zuckte zusammen, zitterte, unter den Binden sah man stummes Schreien. Sonst nichts. Sie forderten mit ihren Schlägen nach Gegenwehr, nach einer menschlichen Reaktion auf die erlittene Tortur. Ihr Zorn wuchs unaufhaltsam, gleich einem gewaltigen Strom, der über die Ufer getreten ist und alles Leben und alles Zweifeln frisst. Manche der Umstehenden fielen untereinander in Konflikt. Waren sich uneinig über die Reihenfolge des Einsatzes neuer Marterwerkzeuge, oder rauften, kämpften, flehten um ein Ende der bestialischen Folterei. Die Menge tobte tollwütig um dieses zerfledderte, zerrissene Zentrum aus Blut und Stille.

Dann löste sich der Großvater von Tommy. Der Wind zerrte an seinem Hemd, ließ die Krawatte über die Schulter einer dunklen Zunge gleich flattern. Sein Schritt war entschlossen und stramm, seine Hände geädert und fahrig. Er trat vor die Frau, oder zu dem Teil, der von ihr noch übrig war. Sie wirkte schlaff, zerrieben, jedoch nahm sie noch einmal ihre ganze Kraft zusammen, um nicht vom Stuhl zu kippen. Blut sickerte aus dem vermummten Kopf.

 

Der Großvater griff nach dem Vorschlaghammer, der unter dem Tisch lag. Den Blick auf das blinde Opfer geheftet, stemmte er die Beine fest in den Boden, und holte mit Schwung weit über die Schulter aus... 

 

© JD Alexander 2013